Artikel zum Thema: Herr Von Keil

Herr Von Keil berichtet regelmäßig auf Metropolitan Circus über alltägliche Begebenheiten und mentale Stolpersteine des kontemporären Grossstadtalltags.

Hoppla – da ist etwas schiefgelaufen.

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“Wer sich der Einsamkeit ergibt, ach! der ist bald allein.”
Ja, Goethe war schon ein schlauer Mann.
Und wer ist schon gern allein? Auf wie viele tolle Dinge müsste man verzichten, wenn man nicht mindestens einen anderen Menschen an seiner Seite hat: Discofoxturniere, Teamsitzungen, Arbeitsplatzteilung…ja selbst Super Mario geht einem wesentlich leichter von der Hand, wenn sich Luigi mit einklinkt. Der Optimalzustand des Menschen besteht nun mal darin, dass er sich zum Kollektiv zusammentut – sei es in Form einer Partnerschaft, einer Familie, einer Freundschaft oder eines Kegelvereins.
Gott sei Dank bin ich nicht allein – ich habe nämlich auf die Zahl genau 478 Freunde. Ja-ha, da werden Sie neidisch, nicht? Und wenn Sie mir nicht glauben, können Sie es schwarz auf weiß nachlesen. Bei Facebook. Die Menschheit hat ja bisher im Laufe ihrer technisch-fortschrittlichen Evolution die tollsten Dinge hervorgebracht – aber seien wir doch mal ehrlich: was sind schon Dinge wie die Erfindung des elektrischen Lichts, des Rads oder der kalorienreduzierten Mikrowellengerichte gegen die unglaublichen Vorzüge des sogenannten ‘social networking’?
Mit nur ein paar Mausklicks stehe ich in engstem Kontakt mit Freunden auf der ganzen Welt und muss selbst für einen unverbindlichen Flirt mit dem potentiellen Begattungspartner nicht einmal vorher die Zähne putzen oder gar frische Unterwäsche anziehen. Stupsen statt duschen – toll, was man da an Wasser- und Heizkosten einsparen kann! Man wird auch viel häufiger eingeladen als früher! Und das ist gut für das Ego. Man muss auch nie wieder Angst haben, eine Veranstaltung zu versäumen – selbst jene Veranstaltungen, die man niemals besuchen würde – schließlich wird man dank des nimmermüden, übereifrigen Enthusiasmus unserer Partymacher-Freunde im Minutentakt darauf hingewiesen.
Auch private Befindlichkeiten lassen sich toll über dieses Medium austragen. Jederzeit kann man seine Freunde überall auf der Welt über seinen Seelenstatus oder die Konsistenz seines Morgenstuhls informieren und auch wenn es einem mal nicht so gut geht, befragt man einfach die allwissende Glücksnuss und lässt die gesamte Öffentlichkeit daran teilhaben – ob sie will oder nicht. Freunde müssen schließlich füreinander da sein. Ja, hier im ‘social network’ wird ‘sozial’ noch groß geschrieben!
Es ist schon verblüffend, wie viele grundelementaren Dinge aus dem zwischenmenschlichen Bereich man heutzutage über den Computer erledigen kann: man findet sich über eDarling, trennt sich über Facebook und zeugt seinen Nachwuchs vielleicht sogar bald über WLAN, wer weiß.
Dabei habe ich mir die Zukunft unserer Zivilisation irgendwie anders vorgestellt. Was ist nur passiert?? Unsere Erwartungen an Utopia waren wohl einfach zu hoch: schließlich sind wir vor 25 Jahren noch davon ausgegangen, dass wir im Jahr 2015 auf unseren Hoverboards durch neonfarbene Innenstädte schweben, um uns mit der hübschen Androidin vom Neptun auf einen Kaffee zu treffen. Aber weit gefehlt: die scheinbar einzigen bedeutsamen Errungenschaften, die uns der vermeintlich rasend-schnelle technische Fortschritt bisher beschert hat, sind batteriebetriebene Pfeffermühlen, Universalfernbedienungen und sprechende Parkhausautomaten. Na super. Schauen wir der ungeschminkten Wahrheit in ihr faltiges Gesicht: das 21. Jahrhundert ist einfach rotzelangweilig! So langweilig, dass die Menschheit scheinbar nichts anderes mehr zu tun hat, als sich gegenseitig mit Belanglosigkeiten, irrelevanten Informationen über uninteressante Tagesaktivitäten und irgendwelcher Farmville-Anfragen auf die Nüsse zu gehen. Oder man verbringt seine Zeit damit, sich durch Urlaubsfotos des eingangs erwähnten Begattungspartners mit seiner neuen Flamme zu klicken, um im Anschluss aufgrund seiner eigenen sozialen Unzulänglichkeit zu verzweifeln.
Ja – wir alle sind mittendrin in einer Zukunft, die eigentlich keiner jemals haben wollte.
Aber immerhin habe ich die tröstende Gewissheit, dass ich nicht alleine bin. Sieh her, Goethe – ich bin nicht allein! Nicht allein…
…aber warum zum Teufel schreibt mich dann keiner an??
Seid ihr etwa alle nicht am Rechner?
Oder liegt es gar an mir?
Ich habe heute doch extra geduscht!
Und während draußen die rote Sonne am Horizont versinkt, starre ich mit roten Augen weiterhin durch den flimmernden Monitor in die schöne neue Welt, in der es niemals dunkel wird. Und erst, als mir die Chatfunktion mit verbindlicher Verlässlichkeit versichert, dass ‘keiner meiner 478 Freunde zur Verfügung steht’, schalte ich mich auf Standby und gehe weinend zu Bett.
Alleine.

Text Herr von Keil

Illustration Tim Brackmann

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Eine Nation auf Wolke Sieben

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“Wer arbeiten kann, kann auch feiern.”
Irgendwie so ging doch das Sprichwort, oder? Arbeit haben wir alle ja mehr als genug, Gründe zur konstitutionierten Ausgelassenheit glücklicherweise ebenso: Geburtstag, Weihnachten, Ostern – irgendeinen Grund zum Feiern hat man ja immer irgendwie. Und wenn nicht, dann sucht man sich eben einen.
Es gibt ja im Laufe eines Kalenderjahres die bizarrsten Gedenk- und Feiertage, die man sich vorstellen kann – zum Beispiel den “Internationen Tag der Händehygiene” am 5. Mai. Auch der “Welthurentag” am 2. Juni oder der “Internationale Tag der Putzfrau” am 8. November hinterlässt beim einen oder anderen möglicherweise berechtigte Zweifel bezüglich der Notwendigkeit. Das sieht beim Valentinstag natürlich ganz anders aus: ein Tag wie Seide und Chiffon; gewidmet all denen, die sich ganz dolle lieb haben. Ein Tag im Jahr, an dem die Menschheit das zelebriert, was sie doch immer wieder im tiefsten Inneren zusammenhält: die Liebe.
Welch wundervoller Gedanke – und selbst, während ich diese Zeilen schreibe, entfährt ein leiser Seufzer der Glückseligkeit meiner versteinerten Brust. Der ansonsten so allgegenwärtige bitterböse Zynismus weicht dem zärtlichen Geflatter tausender bunter Schmetterlinge und ich möchte am liebsten sofort damit beginnen, Rosenblätter zu streuen und mit Teelichtern romantische Liebesbotschaften auf den Fußboden meiner Wohnung zu schreiben – dann aber fällt mir ein, dass mir dazu ja etwas ganz Essentielles fehlt: ich habe ja gar keinen Partner! Scheiße.
Und jetzt? Was sollen denn jetzt all die Menschen machen, die alleine durch’s Leben gehen?
Sollen wir etwa solange draußen warten, bis ihr euren Romantik-Scheiß fertig zelebriert habt oder was? Das ist doch wirklich nicht fair!
Warum zum Teufel gibt es keinen Ehrentag für all die Singles, Alleinstehenden und Sitzengelassenen dieser Welt?? Oder wer gedenkt den armen Opfern, deren Herz Armors Liebespfeil eben nicht getroffen, sondern nur tödlich verwundet hat? Das juckt natürlich wieder mal keine Sau! Apropos Amor – dass dieser Kerl überhaupt noch seiner Tätigkeit nachgehen darf, ist mir ein Rätsel: wie oft der schon daneben geschossen hat, lässt sich ja kaum noch zählen. Da zielt ja jeder besoffene Schützenkönig besser! Es sollte uns wahrlich zu denken geben, dass zwei scheinbar solch bedeutungsferne Begriffe wie “Amor” und “Amok” ein verblüffend ähnliches Wortbild aufweisen.
Dabei gibt es noch so viele andere wichtige Dinge im Leben, denen kein eigener Tag gewidmet ist: warum gibt es beispielsweise keinen “Internationen Tag des Stuhlgangs”? Liebe ist überall, klar – Kacke aber schließlich auch! Man hat sie unter den Schuhen, auf der Windschutzscheibe und hört sie jeden Tag im Radio. Wir haben sie immer dabei , egal wohin wir gehen, und nicht selten scheint sogar das ein oder andere menschliche Gesicht aus ihr geformt worden zu sein. Gut, Geruch und Erscheinungsbild sind nicht so angenehm wie Rosenduft und Schmetterlinge – aber gerade wo doch Liebe sprichwörtlich durch den Magen geht, sollte meiner Meinung auch dem menschlichen Stoffwechsel ein Gedenktag vergönnt sein. Verrückte Welt.
Okay, man muss zugegebenermaßen bei diesen ganzen Feiertagen auch irgendwo an die Marktwirtschaft denken: wenn man keinen Umsatz erzielen kann, ist der ganze Aufwand ja witzlos – das gilt für den Valentinstag genauso wie für den Welthurentag. Wie schon eingangs erwähnt, ist es – so sagt es der Volksmund – nun mal ‘die Liebe, die die Welt im Inneren zusammenhält.’ Und wenn die Liebe dann auch noch mit dem Geld (welches ja bekanntlich auch die Welt regiert) kooperiert, hat Kacke in diesem Zusammenhang einfach keine Chance. ‘Verschissen’ sozusagen, im wahrsten Sinne des Wortes.  Somit steht’s 1:0 für die Blumenhändler, die Nippeslädchen und natürlich für Valentin – wer auch immer er sein mag.
Machen wir uns also nichts vor – unser Leben ist nur halb so viel wert, wenn man es nicht mit jemandem teilen kann, sei es ein Goldfisch, ein Hund oder eben ein Partner. Und auch wenn es irgendwie einen schalen Geschmack hinterlässt: freuen wir uns gemeinsam mit all den glücklichen Partnern und Partnerinnen über ihre duftigen Blumensträuße und knuddeligen Diddl-Tassen, was anderes bleibt uns ja schließlich nicht übrig. Sind wir als Singles zwar für diesen einen Tag die Aussätzigen der Gesellschaft, so bleibt uns immerhin die tröstende Gewissheit, dass wir wenigstens unseren Stoffwechsel haben, der mit uns gemeinsam durch Dick- und Dünndarm geht.
Und während der Rest der Welt sich da draußen für einen Tag ganz dolle lieb hat, bleib ich einfach zuhause, zünde ein paar Kerzen an und schreibe mit dem Hundekot unter meinen Schuhen eine Ode an die Verdauung auf den Fußboden meiner Wohnung:
“Hängt in der Hose dir ein Brocken,
so war der Morgenstuhl schön trocken.
Doch sicherlich macht’s auch mal Spaß,
ist der Stuhlgang auch mal nass.
‘Mach weiter so!’, so rufen wir,
liebes Gedärm – ick liebe dir.”

Text Herr von Keil

Illustration Tim Brackmann

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“Ich glaub’ ich bin gar, kann ich jetzt raus?”

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War das nicht ein großartiges Stück Fernsehgeschichte, Freunde?
Und dabei hatten wir uns schon fast damit abgefunden, dass der höchste Spannungsgrad televisionärer Unterhaltung bereits damit erreicht ist, dass Aiman Abdallah ‘ne Rolle Mentos in eine Colaflasche wirft oder wir Steffi Graf dabei beobachten dürfen, wie sie einen probiotischen Joghurtdrink zu sich nimmt.
Ich meine – ich habe mir (wie ja eigentlich jeder von uns) diese Sendung natürlich nicht angeschaut! Höchstens mal kurz hängengeblieben beim Drüberzappen während der Börsenberichte im Nachrichtenkanal. Dieses Format ist aber nun auch einfach zu verlockend: eine Handvoll Prominenter mit einem Bekanntheitsstatus irgendwo zwischen “Hab ich schon mal irgendwo gesehen” und “Wer zur Hölle ist das!?” werden in einem exotischen Center Parc eingesperrt und müssen eklige Sachen machen. Dabei werden sie rund um die Uhr überwacht von unsichtbaren Kamerakobolden, einem zweiköpfigen Moderatorenmonster und natürlich von RTL, dem Hades des Fernsehfunks. Das Dschungelcamp: die Unterwelt der Unterhaltungsindustrie. Wer hier einmal gelandet ist, kommt nie wieder raus – es sei denn, man verabschiedet sich von Würde, Stolz und Selbstgefühl. Allerdings winken demjenigen, der die televisionäre Inquisition überlebt, eine vermutlich nicht unerhebliche Aufwandsentschädigung sowie die Aussicht auf einen erneuten Aufstieg in den Showbusiness-Olymp. Somit wäre weitestgehend geklärt, weshalb sich jemand freiwillig diesen öffentlichen Torturen ausliefert. Aber es bleibt die Frage: Wieso sehe ich mir als Zuschauer all das an?
Nun, eine eindeutige Antwort auf diese Frage will mir atok nicht einfallen. Aber immerhin erkennen wir wieder einmal mehr, daß Prominente (wobei man diesen Begriff in Hinblick auf die teilnehmenden Kandidaten auch wieder in Frage stellen müsste) ja auch nur Menschen sind wie du und ich – schließlich ist es nicht wesentlich unangenehmer, auf rohen Fischaugen zu kauen als den ganzen Tag bei Schlecker hinter der Kasse zu stehen. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist es uns also mehr als unser gutes Recht, von der heimischen Couchlandschaft aus mit dem nackten Finger auf diese armen verzweifelten Idioten zu zeigen und sie mal richtig auszulachen. Wieso sollen die es schließlich besser haben als wir?? Endlich hat der kleine Mann mal die Chance, seinem medialen Lieblings-Hassobjekt via sündhaft-teurer Telefonhotlines einen virtuellen Arschtritt zu verpassen. Das mag zwar im ersten Moment nach Geldmacherei klingen – aber wer von uns würde nicht sofort zum Telefonhörer greifen, wenn es darum ginge, beispielsweise Herrn Westerwelle mal eine ordentliche Ladung ausgehungerter Kakerlaken in die Hose zu schütten? (Wäre das nicht ein großartiger potentieller Kandidat für die nächste Staffel, liebe RTL-Redakteure? Der braucht eh bald einen neuen Job – also denkt doch mal drüber nach…)
Somit übernehmen Sendungen wie diese eine weit größere Rolle als nur simple Abendunterhaltung: nämlich die Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichts in Form einer tropischen Folterkammer. Toll!
Oder sollte sich am Erfolg des Dschungelcamps lediglich der vielzitierte geistige Verfall unserer Gesellschaft zeigen? Wo man vor noch gar nicht allzu langer Zeit aus Unterhaltungszwecken ein Theater besucht hat, ein Varieté oder die schmuddelige Peepshow im Bahnhofsviertel, so schauen heute 6 Millionen Zuschauer lieber dem Frauenknast-Walter dabei zu, wie sie ein fauliges Entenei essen muß und postwendend in die Botanik reihert. DAS ist zeitgenössische Fernsehunterhaltung, Leute! Da ist nix gestellt und nix gespielt (bis auf die ein oder andere Liebesbeziehung hin und wieder) – hier bekommen wir ein schonungsloses Abbild unserer Realität. Was ist schon die Mondlandung von 1969 gegen eine kotzende Katy Karrenbauer im australischen Busch? Das ist zwar geschmacklos, abstoßend und hochgradig ekelerregend – aber doch müssen wir alle hinschauen, genau wie bei Unfällen auf der Autobahn. Man kann es leider nicht leugnen: die Lust, sich am Leid anderer zu ergötzen, ist irgendwo tief in unseren animalischsten Urinstinkten verankert und ist einfach stärker als jede noch so enthusiastische Bereitschaft, sich auf Schöngeistiges oder gar Bildendes einzulassen. Noch dazu kostet es uns weniger Energie, von der wir in diesen Tagen ohnehin über nur noch sehr begrenzte Ressourcen verfügen – haben wir alle doch tagtäglich im Alltag unsere kleinen Dschungelprüfungen zu bestehen: einen Haltegriff in der U-Bahn anfassen zu müssen ist für einige von uns schließlich nicht minder widerlich als in einen Kübel Fischgedärm zu springen.
Sie sehen – der Dschungel ist eben überall und dazu muß ich nicht mal bis nach Australien fahren. Zumal wir ja jetzt wissen, daß sich der gemeine australische Hinterwäldler am anderen Ende der Welt vorwiegend von solch unappetitlichen Dingen wie Rattenschwanz-Shakes und Regenwürmern in Aspik ernährt. Aber vom edukativen Aspekt mal ganz abgesehen: was können wir aus dem Dschungelcamp mitnehmen in unser Leben?
Nun, ich habe keine Ahnung. Und mögen die Eier hierzulande nun dioxinverseucht sein oder nicht – immerhin bleibt mir die selige Gewissheit, daß ich essen kann, was ich will, wann ich will und wo ich will. Schließlich leben wir in einer zivilisierten Welt!
In diesem Sinne – “Guten Morgen Australien, Gute Nacht Deutschland!”

Text Herr von Keil

Illustration Tim Brackmann

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Die Schönen ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen

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Jeder Mensch braucht irgendein Hobby.
Irgendetwas, das ihn von der Tristesse der alltäglichen Einöde zwischen Job, Nahrungsaufnahme und ehelicher Verpflichtungen ablenkt. Glücklicherweise bietet sich uns als komfortverwöhnten Westeuropäern eine reiche Palette an individuellen Gestaltungsmöglichkeiten für die Zeit zwischen Stechuhr und Schlafengehen. Manch einer spielt Fußball oder Tischtennis, wieder ein anderer spielt lieber Wii oder verzockt sein mageres Gehalt in der schmuddeligen Spielothek im Bahnhofsviertel – was die Freizeitplanung angeht, ist der Phantasie der Deutschen glücklicherweise kaum eine Grenze gesetzt.
Doch hin und wieder trifft man auf Zeitgenossen, die sich in ihrer Freizeit mit den wirklich abstrusesten Dingen beschäftigen. In dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, gibt es beispielsweise den obligatorischen Geflügelzüchterverein – sprich: Menschen, die ihre Erfüllung darin sehen, sich in ihrer Freizeit der Aufzucht von Vögeln mit solch exotisch anmutenden Namen wie dem Württemberger Mohrenkopf, dem Westfälischen Totleger oder dem Deutschen Reichshuhn zu widmen. Das ist in ländlichen Gebieten unserer schönen Republik bei weitem nichts Ungewöhnliches. Sie müssen wissen: jede deutsche Ortschaft mit mehr als 3 Einwohnern verfügt über einen solchen Verein. Und ein-zweimal im Jahr treffen sich die emsigsten Geflügelzüchter der Region im Geflügelzüchtervereinsheim und diskutieren mit ernsten Gesichtern und minderwertigem Schnaps ihre Geflügelzüchterangelegenheiten. Das erscheint uns als weltgewandten multikulturellen Großstädtern natürlich völlig lächerlich und hinterwäldlerisch. Hier in Berlin sind wir schließlich ganz andere Dimensionen gewohnt – hier in Berlin gibt es schließlich die Fashion Week.
Für all jene von Ihnen, die selber nicht aus Berlin kommen oder – wie ich – Veranstaltungen wie jene aufgrund mangelnden Interesses bisher einfach immer gemieden haben, werde ich die wichtigsten Eckdaten mal kurz zusammenfassen:
Die Fashion Week Berlin ist eine durch Sponsoring finanzierte Modewoche, bestehend aus verschiedenen Shows und Veranstaltungen verteilt über die ganz Stadt, bei der sich Designern aus aller Welt eine Möglichkeit bietet, ihre aktuellen Kollektionen einem breitgefächerten Publikum aus Presse, Prominenz und gemeiner Bourgeoisie zu präsentieren. Falls Ihnen diese Definition aufgrund der hohen Denglisch-Dichte vielleicht zu unverständlich erschien, lässt es sich auch unkomplizierter formulieren: ernste dünne Menschen sehen ernsten, noch dünneren Menschen dabei zu, wie sie Kleidungsstücke vorführen – jedes davon so teuer, dass man mit dessen Reinerlös die Hypothek des Veranstaltungsortes mindestens ums Dreifache ablösen könnte. Selten ist die Parole “Arm aber sexy” plastisch greifbarer gewesen. Somit ist diese Veranstaltung für unsere Stadt natürlich ein wertvolles Ass im Ärmel im weltweiten “Wer-hat-den-Größten”-Spiel – bei mir persönlich allerdings blieb die Faszination für dieses Medienspektakel bisher aus.
Doch warum nur? – Wo sich doch jeder um mich herum so prächtig zu amüsieren scheint.
Überall attraktive, schöne Menschen mit Stoffbeuteln und Duttfrisuren; ein einziger glamouröser Traum aus Glitzer und Hochglanz, tausendfach gebündelt und wieder gebrochen durch die Hornbrille der Berliner Bohème. Eine Woche, die es scheinbar wert ist, ihr entgegenzufiebern – so hört man es jedenfalls an allen Ecken. Doch mehr macht es nicht – es glitzert nur?? Das kann doch nicht alles sein. Ich versteh es einfach nicht. Ich muss mir hier mal irgendwo ein paar Informationen einholen. Irgendjemand muss mir doch sagen können, was das hier alles eigentlich soll!
In einem unbeobachteten Moment schlüpfe ich zwischen all den vielen mageren Beinpaaren hindurch und verschaffe mir Zugang hinter die Kulissen. Alsbald treffe ich zwischen zwei Luftschichten auf ein Model und frage es, wieso es das eigentlich alles macht. “Es macht mir Spaß” sagt das Model und verhungert, bevor ich die Gelegenheit bekomme, weitere Fragen zu stellen. Zu dumm. Jetzt stehe ich wieder da: inmitten eines Blitzlichtgewitters in einem erregten Meer aus Duttfrisuren, immer noch ohne eine zufriedenstellende Antwort, und hadere mit meiner eigenen Unzulänglichkeit.
Unweigerlich muss ich wieder an den Geflügelzüchterverein meines Heimatortes denken. An all die feisten rotfleckigen Gesichter, den billigen Korn und die bizarre Gewichtigkeit von Geflügelzüchterangelegenheiten. Ich denke an die unzähligen Trophäen in den speckigen Vitrinen des Vereinsheims; an schwitzige dicke Menschen, die zur Jahreshauptversammlung der Geflügelzüchter in der Mehrzweckhalle mit ernsten Mienen ihr preisgekröntes Haubenhuhn in die Kamera des Dorfblättchen-Fotografen halten – Dinge, die ich schon damals einfach nicht verstanden habe. “Arme Schweine” denkt intuitiv der weltgewandte Großstädter in mir. Dabei geht es hier ja gar nicht um Schweine, sondern um Hühner. Sei’ s drum – dererlei Veranstaltungen werden mir wahrscheinlich auf ewig ein Mysterium bleiben. Es sei denn…
Kurzerhand kämpfe ich mir den Weg zur Siegertribüne frei, postiere mich vor die stolzen Hühnerzüchtern und in einem unbeobachteten Moment frage ich das Huhn, weshalb es das eigentlich alles mitmacht. Doch noch bevor das Huhn antworten kann, wird es in eine vollautomatisierte Schlachtmaschine geklemmt und geköpft. Mist. Anschließend wird es zu einem schmackhaften Hamburgerbratling verarbeitet, von einer ambitionierten Systemgastronomie-Servicekraft fachgerecht zubereitet und am Duisburger Hauptbahnhof einem dicken unglücklichen Mädchen verkauft, das gerade frisch durch das Casting für eine Model-Fernsehshow gefallen ist.
Spätestens an diesem Punkt schließt sich der Kreis wieder und ich bin beruhigt.
Und während das verheulte dicke Mädchen in seinen Burger beißt und mit unglücklicher Miene in den Zug Richtung Heimatdorf steigt, stehen Menschen mit Hornbrillen, Stoffbeuteln und Duttfrisuren am gegenüberliegenden Bahnsteig und lachen.
Worüber?
Nun, keine Ahnung – aber sicherlich am wenigsten über sich selbst.

Text Herr von Keil

Illustration Tim Brackmann

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Be ⎮ am ⎮ te, der; (Versuch einer Definition)

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Es gibt Menschen, die arbeiten in Krankenhäusern, beim Rettungsdienst oder der Feuerwehr und sind 24 Stunden am Tag im Einsatz, um anderen Menschen das Leben zu retten.
Es gibt Menschen, die mit kleinen Motorbooten auf offener See japanischen Walfischkreuzern hinterherjagen und ihr eigenes Leben auf’s Spiel setzen, um das der gefährdeten großen Meeressäuger zu retten.
Und es gibt Menschen, die arbeiten auf dem Amt.
Menschen auf dem Amt retten keine Leben, weder von Mensch noch Wal, aber trotzdem spielen sie in unserem großen sozialen Gefüge eine tragende Rolle. Ich denke ich gehe Recht in der Annahme, daß keiner von uns leidenschaftlich gern irgendwelche Behörden aufsucht: karge Warteräume in eierschal, die benebelnde Geruchsmischung von schlechtem Kaffee und Bohnerwachs, endlose unverständliche Formulare und Paragraphen…nein, mit sowas befasst sich einfach niemand gerne – sollte man meinen! Aber was sind es dann für Menschen, die freiwillig in derartigen Einrichtungen arbeiten? Einmal mehr ein Grund, uns diese Berufsgruppe mal etwas genauer anzusehen.
Wussten Sie, daß ein Goldfisch das Wachstum seines kleinen Goldfischkörpers ganz intuitiv an seine Lebensumstände anpasst? Das heißt: je kleiner das Glas, in dem er schwimmt, desto kleiner das Goldfischchen. Faszinierend, nicht? Das funktioniert bei der Spezies des Homo sapiens im Wesentlichen nicht anders: auch bei uns ist es wissenschaftlich erwiesen, daß sich Komfort und Ambiente des jeweiligen Lebensraumes auch im physiognomischen Erscheinungsbild eines Menschen widerspiegeln. Diese These möchte ich Ihnen gern am klassischen Beispiel einer weiblichen Verwaltungsfachangestellten des öffentlichen Dienstes (kurz: VFA d.ö.D.) verdeutlichen:
Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, die der Laie problemlos an der Kombination von blauem Hemd und gelb-gemusterter Krawatte erkennen kann, finden sich unter den weiblichen Arbeitnehmerinnen in deutschen Amtsstuben wesentlich komplexere Abstufungen. Diese lassen sich im Groben in drei Phasen unterteilen:
Die junge Beamtin in spe (Phase 1) ist in der Regel sehr schnell an eindeutigen äußeren Merkmalen zu erkennen. Sie trägt mit Vorliebe gern Hosenanzüge und Polyester-Ensembles aus dem C&A-Sortiment, bevorzugte Farbkombinationen sind schwarz/hellblau oder schokoladenbraun mit Nadelstreifen. In diesem Stadium der Ausbildung hört man, je nach Bundesland, auf die Namen ‘Nicole’, ‘Ramona’ oder ‘Annett’. Aufgrund der bis dato noch untergeordneten Stellung innerhalb des Betriebes ist eine individuelle Gestaltung des Arbeitsplatzes nicht bzw. in nur sehr geringem Maße möglich: in den meisten Fällen findet sich jedoch die obligatorische “Ohne dich ist alles doof”-Postkarte am Bildschirm. Das verbreiteteste Fortbewegungsmittel dieser Berufsklasse ist ein Opel Corsa, Baujahr 2001, in rot oder mintgrün. Warum dies so ist, ist noch weitestgehend ungeklärt.
Etwa ab dem fünfzehnten bis zwanzigsten Berufsjahr tritt die Verwaltungsfachangestellte d.ö.D. über in Phase 2. Die Beamtinnen, die sich in dieser Phase befinden und den größten Teil der Gesamtheit deutscher Beamtinnen darstellen, sind im Schnitt 35-50 Jahre alt und verheiratet mit durchschnittlich 1,37 Kindern (Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, Durchschnittliche Kinderzahl je Frau 2009). Beliebte Namen dieser Berufsgruppe, je nach Bundesland, sind ‘Birgit’, ‘Elke’ oder ‘Geli’ (Kurzform vom ‘Angelika’). Unverwechselbare äußere Kennzeichen bestehen in allererster Linie aus einer Kurzhaarfrisur, die am treffendsten mit Attributen wie ‘frech’ oder ‘peppig’ beschrieben werden kann. Sehr verbreitet in diesem Zusammenhang sind Haartönungen in aubergine mit ergänzender Farbsträhne in rot, blau oder violett (je nach Bundesland). Brillenträgerinnen greifen gern auf randlose Modelle zurück, die allerdings an den Bügeln mindestens einen modischen Gag aufweisen müssen (vgl: Christen, Ilona). Ab dieser Phase darf der Arbeitsplatz individuell und ausladend dekoriert werden: dies erfolgt in der Regel mithilfe selbstgemalter Bilder der Kinder/Neffen/Patenkinder oder DIN A2-Postern aus dem “Medizini”-Sortiment mit beliebten Motiven wie “Kätzchen spielt mit Küken” oder “nordeuropäisches Eichhörnchen auf Hagebuttenzweig”. In punkto sozialer Kompetenz ist diese Berufsgruppe am kontaktfreudigsten: unter Kolleginnen zeigt man sich gern geschwisterlich-verspielt und spricht sich gegenseitig in der Du-Form und mit Nachnamen an. Auch während der Sprechzeiten ist man Witzeleien und lockeren Gesprächen mit Bürgern und Amtsbesuchern nicht abgeneigt: durch jahrelanges gezieltes Training findet die versierte VFA d.ö.D. schnell und einfach den Einstieg in ein unkompliziertes Gespräch, welches meist durch den unvermeidlichen Zwischenfall ausgelöst wird, daß das Datenverarbeitungssystem schon wieder alle Masken gelöscht hat und alle Eintragungen erneut vorgenommen werden müssen. (vgl.: “Der Computer will heute nicht so wie ich.”)
Arbeitnehmerinnen über 50 Jahre haben mit Phase 3 die höchste Stufe des Beamtendaseins erreicht. In dieser Stufe hat sich sowohl das körperliche Erscheinungsbild als auch die empathisch-soziale Kompetenz unwiderruflich an die Nüchternheit des Verwaltungsapparates angepasst. Das Arbeitsumfeld findet sich ohne jedwede Dekoration und ist lediglich auf Funktionalität ausgerichtet. Beamtinnen dieses Status erledigen Aufgaben schnell, wortkarg und unverständlich. Selbst verwaltungstechnische Vorgänge, die dem Außenstehenden als kompletter Nonsens erscheinen (wie z.B. das Ausstellen einer sogenannten Lebensbescheinigung) bearbeiten VFA der Phase 3 ernsthaft, konsequent und ohne den leisesten Anflug von Selbstironie. Um den gehobenen Stellenwert innerhalb der bürokratischen Rangordnung zu unterstreichen, tragen Verwaltungsfachangestellte dieser Kategorie ein Halstuch oder einen Seidenschal (vgl.: Kubitschek, Ruth-Maria). Unterstützend wirken Vornamen mit harter, unbarmherziger Note: ‘Ingrid’, ‘Renate’ oder ‘Annegret’.
Ja, so sieht’s aus. Das ist doch komplexer, als Sie dachten, oder?
Und doch wird der Berufsstand des Beamten von so vielen Bürgern belächelt oder gar verschmäht – und das kann doch nicht nur daran liegen, daß sich das Wort “Beamte” mit der Umsortierung eines einzelnen Buchstabens in die selbstreferentielle englische Aufforderung “Beat me” umformen lässt! Nein – ich vermute, da spricht der pure Neid: denn die wahre Alltags-Action passiert auf, hinter und manchmal sicherlich auch unter den Schreibtischen unserer bundesdeutschen Behörden, wo man sich täglich der unberechenbaren Gefährlichkeit von Tackernadeln, streikenden Computermasken und neuen, abstrusen Gesetzesentwürfen auszusetzen hat. Ein Job der Extreme zwischen Sprechzeiten und Mittagspause – und jeden Tag diese verdammte Angst, daß der Kaffee vom Automaten wieder nach Hühnerbouillon schmeckt. Und überhaupt: jeder, der weiß, was dieser Automatenkaffee nach einer Weile mit der Magenschleimhaut anstellen kann, wird die Einstufung der Beamtentätigkeit auf Stufe 10 der Gefährlichkeitsskala sicherlich kaum noch anzweifeln wollen.
Sie sehen – man muß eben äußerlich kein starker Kerl sein, um Held/-in des Alltags zu werden.
Ein starker Magen tut’s manchmal auch schon.

Text Herr von Keil

Illustration Tim Brackmann

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